Ralf Wagner
[30.8.2004 in der F.A.Z.]
Hartz ist sozial
Zu Hartz IV: In diesem Jahr werden in Berlin erstmals mehr
Erwachsene von Transfereinkommen leben als von eigener Arbeit. In
Ostdeutschland ist das schon lange so und auch in einigen
Regionen in Westdeutschland. Das bedeutet aber nichts anderes,
als daß jeder Erwerbstätige einen Nichterwerbstätigen
finanziert - über Steuern und Sozialabgaben. Mit
durchschnittlich 29 Euro Kosten ist dadurch die Arbeitsstunde in
Deutschland auch die teuerste in der Welt. Daß damit der
Sozialstaat permanent seiner Finanzierungsgrundlage, der Beschäftigung,
durch Rationalisierungsdruck und Auslagerung entgegenwirkt, ist
die erste dieser Wahrheiten und eigentlich eine Binsenweisheit.
Erkannt hat das die Regierung wohl. Sie hat schlicht kein Geld
mehr und merkt, daß ihr mit immer höheren Abgaben die Einnahmen
immer weiter wegbrechen. Zugeben will sie es aber nicht, denn die
Überforderung des Sozialstaates ist vor allem das Ergebnis der
eigenen Ideologie und der "Wohltaten" zahlreicher
Politikergenerationen - aller Parteien. Und so müssen
demographische Faktoren, die noch gar nicht wirken, oder die
Globalisierung, die es nicht erst seit heute gibt, als Begründung
herhalten. Auch die Journalisten dieses Landes sind wohl
offensichtlich überfordert. Sie rechnen dramatisch nach, was die
von Hartz IV Betroffenen an eigenen Reserven aktivieren müssen,
bevor sie Leistungen und kostenlose Sozialversicherung erhalten.
Daß dieses Geld nicht von einem anonymen Staat kommt, sondern
von Steuer- und Beitragszahlern, scheint niemanden zu
interessieren. Dabei würde ein Blick auf die Einkommen von
Krankenpflegern, Finanzbeamten und Gemüsehändlern zeigen, daß
sie nach Abzug eben dieser Steuern und Sozialabgaben netto kaum
mehr als Transferempfänger erhalten. Insofern ist Hartz
IV überfällig und in der Tat auch sozial. Allerdings fördert
die Korrektur der einen Lüge die damit verbundenen anderen Lügen
um so offener zutage - und vielleicht scheut die Regierung die
Offensive in Sachen Hartz auch aus Angst vor den damit
verbundenen Konsequenzen.
Wahrheit Nummer zwei ist, daß es ein "Ende der
Erwerbsarbeit" nicht gibt. Ebenso ist jede Arbeit nicht nur
zumutbar, sondern auch dringend gewünscht. Allein die durch den
Staat verursachten (Zusatz-) Kosten der Arbeit verhindern das.
Entweder muß der Staat sie dramatisch reduzieren oder wie in den
Vereinigten Staaten mit einer Negativsteuer korrigieren.
Wahrheit Nummer drei bricht mit einer weiteren Bastion des
politisch korrekten Selbstbetrugs der Linken: Wirklich wohl fühlen
kann man sich im Sozialstaat nur, wenn man ihn ausnutzt. In der
Tat hat Deutschland das weltweit ausgefeilteste Anreizsystem für
Nichtarbeit: Millionen von Ruheständlern unter 60 und
Sozialhilfeempfänger in der dirtten Generation. Dagegen wirkt
auch Hartz IV nicht, ganz im Gegenteil. Wahrheit Nummer vier
betrifft den Osten. Hier beendet Hartz IV dramatisch die
Illusion, einer massenhaften Anschlußbeschäftigung an alte
Arbeitsverhältnisse. Einen wirklichen Aufbau Ost hat es so nie
gegeben. Die Bilanz der Treuhandanstalt ist verheerend, die
Milliardentransfers haben allenfalls zu blühenden Verwaltungen
geführt und sind wieder im Westen gelandet. Der Osten ist auf
geraume Zeit deindustrialisiert und auf Jahre hinaus ist der
beste Tip an die Arbeitnehmer: Geht dorthin, wo es Arbeit gibt.
Wahrheit Nummer fünf zeigt, daß die sogenannten Solidarsysteme
ihren Namen nicht verdienen, da sie Zwangssysteme sind, welche
die Einzahler entmündigen und sie im Bedarfsfall staatlicher
Willkür aussetzen. Wie anders soll man beschreiben, daß jemand,
der jahrzehnte in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat,
nur die gleiche Leistung wie ein Berufseinsteiger erhält.
Erstaunlicherweise verlangt hier aber nicht einmal die FDP eine
Privatisierung der Arbeitslosenversicherung. Und Wahrheit Nummer
sechs offenbarte sich nur dank der Umsetzung von Hartz IV.
Beamtete Arbeitslose West werden nach Ostdeutschland abgeordnet,
um dort gewöhnliche Arbeitslose Ost zu betreuen. Und das machte
deutlich, daß nicht alle Arbeitslosen gleich sind. Während die
einen "normale" alle Arbeit annehmen und Leistungskürzungen
hinnehmen müssen, ist den anderen (Beamten) nur
qualifikationsentsprechende Arbeit zuzumuten und jeder
Mehraufwand zu vergüten. Eine Geschichte aus dem Absurdistan des
nicht reformierbaren deutschen Berufsbeamtentums. Wenn also die
Bundesregierung Kritik verdient, dann nicht wegen der Reformen,
die sie anders als ihre Vorgänger eingeleitet hat, sondern wegen
der Reformen, die sie bis heute scheut. Ohne diese aber wird
Hartz IV ohne Wirkung bleiben.
Ralf Wagner, Berlin
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