Ralf Wagner
   
     
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  Arbeit schaffen anstatt Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen
Während immer mehr Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen die Probleme auf dem Arbeitsmarkt nur verdecken und verschlimmern ist es an der Zeit, eine neue Struktur staatlicher Aufgaben zu definieren.

Manuskript, Juli 1996

Zwar sind die öffentlichen Kassen gut gefüllt - kaum ein anderes Land der Welt verlangt seinen Bürgern so viele Steuern und Abgaben ab wie das wiedervereinigte Deutschland -, doch die Ausgaben sind den Einnahmen weit davongelaufen. Das zwingt zum Nachdenken. Nicht mehr alles das, was gewohnt war, kann heute noch finanziert werden. Wenn man sich von dem Gedanken verabschiedet, noch mehr als 50 Pfennige von jeder verdienten Mark über den Staat umzuverteilen, kommt eigentlich nur eine Überprüfung aller Ausgaben in Frage. Geschieht dies unter kurzfristigen Erwägungen, sei es um termingerecht die Erreichung der Maastricht-Kriterien zu sichern (was damit unsinnigerweise zum einem Über-Ziel der Wirtschaftspolitik würde) oder aber lieb gewordene Besitzstände fernab der Überprüfung ihrer eigentlichen Begründung zu sichern, kann, wenn überhaupt, die Lösung auch nur eine kurzfristige sein. Das nächste Dilemma ist vorprogrammiert, seine Ursache wird in der Nicht-Lösung des vorangegangen liegen. Um eine grundsätzliche Überprüfung aller staatlichen Leistungen wird man nicht umhinkommen, sowohl was deren Notwendigkeit als auch deren gesamtwirtschaftliche Folgen anbelangt.

Das Ergebnis einer solchen Überprüfung kann nur ein neuer Konsens über die Aufgaben der Staates und der daraus resultierenden Belastung seiner Bürger sein. Dieser Konsens ist auch dringend vonnöten, da in den derzeitigen Umverteilungssystemen kaum noch Symmetrie erkennbar ist sowie das Solidarprinzip und der Generationenvertrag vor allem durch eine nicht enden wollende Überforderung zunehmend an Akzeptanz verlieren. Solch einem neuen Konsens müßte natürlich auch - und darüber wird derzeit leider kaum gesprochen - ein mehr oder weniger gemeinsames Verständnis dessen zugrunde liegen, was den Reichtum dieser Gesellschaft hervorgebracht hat und was ihn auch weiterhin sichern muß. Aus der Sicht des Autors ist es die Arbeit, die Erwerbstätigkeit, die einzige wirkliche Ressource dieses Landes. Denkt man an die großen Aufbauphasen der Geschichte zurück, dann war dies ja auch einmal unumstritten.

Wenn dem aber so ist, dann kommt man nicht umhin, diese Ressource zu pflegen und zu hegen und nicht mit den Kosten alle dessen zu belasten, was sonst noch in einer Gesellschaft wünschenswert und nützlich erscheint. Eine Trennung von Schaffung des Wohlstandes und seiner allseits akzeptierten Verteilung und Umverteilung ist dringend erforderlich. So kann es beispielsweise nicht Aufgabe der Unternehmen, die sich europa- und weltweitem Wettbewerb stellen müssen, sein, alle möglichen Anforderungen einer Sozial- und Gesellschaftspolitik direkt zu erfüllen. Es kommt dann ohnehin nur den Beschäftigten zugute. Nur wenn in den Unternehmen genügend Einkommen verdient wird, kann ein Teil davon umverteilt werden. Alles andere ist nichts anderes als permanentes Sägen an dem Ast, auf dem man sitzt.

Beispiele für eine solche Fehlentwicklung gibt es genügend. Besonders deutlich werden die Probleme allesamt in Ostdeutschland. Sie sind aber keineswegs spezifisch ostdeutsch sondern eben dort nur besonders evident. Auch die schon erwähnte Kurzfristigkeit im Herangehen tritt dort besonderes deutlich hervor. Nehmen wir uns ein Beispiel heraus: Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM).

Die Geschichte

Die Wirtschaftsentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg legte 1966/67 mit einem erstmaligen und damals als Schock empfundenen Rückgang der Wirtschaftsleistung eine Pause ein. Die Folgen waren erheblich. Die Regierung wechselte, die Neuverschuldung stieg sprunghaft an und das staatliche Engagement in der Wirtschaft wuchs, nicht zuletzt, um die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf die Beschäftigung zu mildern. Auch gesetzliche Instrumentarien wurden überarbeitet bzw. neu geschaffen, um diesem Ziel zu dienen. 1969 schließlich nahm das Arbeitsförderungsgesetz im wesentlichen die Form an, die wir heute kennen.

Maßgebend war dabei der Gedanke, die Arbeitsmarktfolgen aus den nun wieder regelmäßig einsetzenden Strukturänderungen der Wirtschaft abzufangen und die betroffenen Arbeitnehmer auf eine neue Beschäftigung vorzubereiten. Die Arbeitsplätze, die in Branchen oder Regionen aufgrund ihrer nicht mehr gegebenen Wettbewerbsfähigkeit verlorengehen, sollten, so erwartete man, in neuen Zweigen und auch an anderen Orten neu entstehen. Diesen Prozeß arbeitsmarktpolitisch zu begleiten war ein Hauptanliegen des AFG. Finanziert vor allem durch Mittel aus der Arbeitslosenversicherung sollte hier u.a. durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auch eine de facto reguläre Beschäftigung entstehen, die dieses temporäre Problem struktureller Arbeitslosigkeit ohne Nachfrageausfall und vor allem ohne eine Ausscheiden der Betroffenen aus dem Erwerbsleben überbrückte. Und genau dort, wo Arbeitslosigkeit als Folge eines regionalen und zeitliche übersehbaren Strukturwandels mittels ABM gemildert wurde, sind auch die größten Erfolge dieses Instrumentariums zu verzeichnen gewesen. Letztlicher Gradmesser war dabei selbstverständlich der Übergang in der sog. ersten Arbeitsmarkt.

Die Risiken und Widersprüche

Doch selbst ein solches Engagement war nie unumstritten. Die Schaffung neuer Stellen quasi von Schreibtisch aus kann nicht ohne Folgen auf die Gesamtwirtschaft bleiben, die ja selbst eine solche Beschäftigung nicht hervorgebracht hat. Möglicherweise werden ABM-Stellen auch gerade dort geschaffen, wo sie infolge der fast vollständigen Lohnsubvention als kostengünstige Alternative jedes private Angebot - und damit reguläre Beschäftigung verhindert.

Daher geht das AFG auch davon aus, daß ABM-Stellen nur im Bereich der sogenannten nicht getätigten Nachfrage entstehen sollten, d.h. sie müssen zwar nützlich sein, aber sie dürfen kein sonstiges Angebot verdrängen. Im privatwirtschaftlichen Bereich soll das durch sog. Unbedenklichkeitsbescheinigungen der Industrie- und Handelskammern gesichert werden, im Umkreis öffentlicher Aufgaben (z.B. bei Aufträgen für Gutachten oder Sanierungen) gibt es allerdings kaum verbindliche Regelungen.

Dabei ensteht natürlich sofort die Frage, wie sinnvoll können dann ABM-Projekte überhaupt sein. Einerseits sollen sie nur solche Arbeiten erledigen, für die eigentlich keiner Geld ausgibt, andererseits sollen sie aber nützlich sein und vor allem: sie sollen auf eine künftige Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt vorbereiten.

Nur scheinbar am überzeugendsten scheint dieser Widerspruch im Umfeld staatlicher Dienstleistungen vor allem im Sozial- und Betreuungsbereich gelöst zu sein. Dort, wo der Bund, die Länder und die Kommunen für bestimmte Aufgaben kein Geld haben bzw. kein Geld zu haben glauben, werden diese an ABM-Projekte übertragen. Damit scheint allen geholfen und die gegenwärtig diskutierte Reduzierung von Mitteln der Arbeitsförderung stößt selbstverständlich eben dort aufgrund des dann entstehenden wirklich sichtbaren Mangels auf die vehementesten Widerstände.

Vergessen wird dabei aber, daß es in solchen Fällen um den zu erwartenden Verlust der Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe geht, zumindest um einer, die von der Öffentlichkeit anerkannt wird, und damit die Erledigung durch ABM (und nicht durch den öffentlichen Dienst) das eigentliche Problem ist. Dies wird deutlicher, wenn man sich dem Problem der Finanzierung näher zuwendet.

Die Finanzierung

Wie schon geschildert werden die ABM-Projekte zu mindestens 70 Prozent aus den Mitteln der Bundesanstalt für Arbeit finanziert, d.h. aus Beitragen der abhängig beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Unternehmen. Das ist wie gesagt sinnvoll, wenn es wirklich um die zielgerichtete Überwindung der strukturellen Arbeitslosigkeit geht und es sich um eine zeitlich eng befristete Aufgabe handelt. Wenn aber - und Beispiele gibt es reichlich - öffentliche Aufgaben durch ABM-Kräfte erfüllt werden, dann heißt das nichts anderes als das die Finanzierung öffentlicher Aufgaben nicht mehr aus den durch alle aufzubringenden Steuermitteln sondern nur aus den Beitragsleistungen der Arbeitnehmer und der Unternehmen zur Arbeitslosenversicherung finanziert werden. Um es noch deutlicher zu sagen: Beamte, Freiberufler, Politiker und Verbraucher sowie Vermögende werden damit von der Finanzierung entlastet, die Arbeitnehmer und die Unternehmen zusätzlich belastet.

Je mehr öffentliche Aufgaben - aber auch je mehr Arbeitsmarktaufgaben - durch ABM erfüllt und von den Beitragszahlern finanziert werden, desto stärker wird der Produktionsfaktor Arbeit mit zusätzlichen Kosten für die Unternehmen belastet. Das ist nicht nur ungerecht, da eben alle anderen von den Kosten für diese Aufgabe befreit bleiben, sondern es führt auch dazu, daß sich bei den so in der Tat Betroffenen die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung ständig erhöhen, d.h. die berühmten Lohnnebenkosten steigen, die Arbeit wird teurer und weniger nachgefragt bzw. durch Kapital ersetzt und damit: noch mehr Arbeitslosigkeit wird "produziert". Diese wiederum wird durch ABM gelindert, die dann die Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit erneut erhöhen, usw. usf. .

Es ist doch schon vom Grundsatz her kaum einzusehen, warum denn kommunale ABM-Projekte wie z.B. bei der Industriebrachenrekultivierung, von denen alle profitieren, einzig durch die Beitragszahler der Arbeitslosenversicherung finanziert werden soll.

Gemessen an der Gesamtbeschäftigung in Westdeutschland vor der Wiedervereinigung mag dies zwar vom Prinzip her störend, vom Umfang her jedoch kaum ein Problem gewesen sein, mit dem auf fast die Hälfte des Ausgangswertes geschrumpften ostdeutschen Arbeitsmarktes entwickelte sich aber auch bei den ABM eine ganz andere Dimension und eine neue Eigendynamik.

ABM in Ostdeutschland

Selbst wenn es in Ostdeutschland keine Unternehmenszusammenbrüche gegeben hätte, so hätte eine mittelfristige Angleichung der Beschäftigtenstruktur (Ausbildungszeiten, Frauenbeschäftigungsgrad, Eintritt in das Vorrenten- und Rentenalter) die hohe Beschäftigungsquote in der ehemaligen DDR reduziert und die Zahl der Beschäftigten um rund eine Million verringert. Voraussetzungen und Art und Weise der Transformation haben aber zu einem weiteren gewaltigen Beschäftigungseinbruch vor allem im verarbeitenden Gewerbe geführt. Riesige Unternehmen gingen in kürzester Zeit unter.

Um Arbeitslosenquoten bis zu 40 Prozent und die damit verbundenen auch wirtschaftlichen Folgen für die Regionen zu vermeiden, bot sich das "Auffangen" in Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften, d.h. in ABM-Projekten geradezu an. Unzweifelhaft wurde durch die Anwendung dieses Instrumentariums die Verödung ganzer Landstriche und der soziale Abstieg Hunderttausender verhindert.

Allerdings erhalten mit dem gigantischen Ausmaß der ABM-Projekte im Osten Deutschlands (auf einen Arbeitslosen kommt fast eine ABM-Kraft bzw. ein Umschüler) die eingangs genannten Probleme auch eine völlig neue Dimension. Am deutlichsten zeigt sich dies dann auch wieder in der Finanzierung. Der Umbruch des ostdeutschen Arbeitsmarktes wurde und wird fast vollständig von den Beitragszahlern der Arbeitslosenversicherung bezahlt und damit keineswegs solidarisch auf alle Steuerzahler verteilt. Damit wurden und werden auch für diesen Teil der Erwerbsbevölkerung die Lohnnebenkosten unnötig und in nie gekannter Größenordnung in die Höhe getrieben.

Dies betrifft aber ebenso den Tatbestand, daß eine Vielzahl von Aufgaben im öffentlichen Bereich in den ostdeutschen Ländern, die Mangels Steueraufkommen derzeit arbeitsamtsfinanziert durchgeführt werden. Bearbeitung von Wohngeldanträgen, die schon erwähnte Industriebrachensanierung, Infrastrukturleistungen bis hin zu Friedhofsinstandsetzungen sind öffentliche Aufgaben und müßten eigentlich über Steuern finanziert werden.

Einmal eingebürgert, wird die Praxis der Erledigung öffentlicher Aufgaben durch ABM durch die chronisch defizitären öffentlichen Hände natürlich gern aufgegriffen. Ohne eigenes Geld aber auch ohne zusätzliche Verpflichtungen gegenüber den Arbeitnehmern können Aufgaben angepackt und gelöst werden, ohne sich Gedanken über eine Umstrukturierung öffentlicher Mittel machen zu müssen. Obwohl die ABM-Kräfte eben ausdrücklich nur Beschäftigte aus Zeit und meist auch unter Tarif sind, rühmen sich makaberer Weise dann noch die öffentlichen Arbeitgeber, ihnen "Lohn und Brot" gegeben zu haben. "Lohn und Brot" kamen aus Nürnberg und die öffentlichen Arbeitgeber habe den ABM-Kräften noch dazu die Rechte eines normalen Arbeitsverhältnisses vorenthalten - von einer sichtbaren Anschlußbeschäftigung, wie sie einstmals vorgesehen war, ganz zu schweigen.

"Erfolgreich" etabliert, entwickeln die ABM-Projekte unter dem Eindruck andauernd niedrigen Nachfrage nach Arbeit und unter dem Druck der Novellierungen des AFG eine verständliche aber äußerst bedenkliche Eigendynamik. Sie konkurrieren offen und oft ohne jede Rücksicht auf den Vorbehalt, nur im Bereich ansonsten nicht getätigten Nachfrage zu agieren, um private und öffentliche Aufträge. Da sie fast keine Lohnkosten berücksichtigen müssen, kann eigentlich keiner der sich gerade entwickelnden privaten Anbieter mithalten. Private Konkurrenz wird verdrängt, eine Entwicklung neuer Unternehmen und auch neuer Arbeitsplätze in der privaten Wirtschaft wird verhindert.

Ein Beispiel

1991 wurde im Berliner Osten ein ABM-Verein Kubus ins Leben gerufen, der derzeit 240 Personen Beschäftigung beim Recyceln von Möbeln, alten Fenstern und Elektronikschrott bietet. Dabei handelt es sich unbestreitbar um eine notwendige und ökologisch sinnvolle Aufgabe. So konnte der Verein auch kräftig expandieren. Allerdings - und darüber klagt z.B. die Berliner Zeitung in ihrer Ausgabe vom 24.6. 96 - sei der Verein an das AFG gebunden und müsse daher die Beschäftigten spätestens aller zwei Jahre wechseln. Auch würde das Arbeitsamt alle Überschüsse einziehen und somit eine Expansion des Unternehmens verhindern.

Ja aber wie kann man denn davon ausgehen, daß auf der einen Seite das Arbeitsamt - und das heißt ja letztlich der Beitragszahler - die Lohnkosten des Unternehmens bestreitet und damit das Unternehmen in die Lage versetzt, äußerst günstig zu arbeiten und andererseits dann das Unternehmen vollständig über die Gewinne verfügen kann. Wenn sich solch eine Dienstleistung am Markt etablieren kann, dann ist es doch ein Gebot der Vernunft, daß relativ rasch eine Ausgründung auf privatwirtschaftlicher Grundlage erfolgt und damit die Beitragszahler wieder entlastet werden. Eine Wechsel des eingearbeiteten Personals wäre dann ohnehin nicht mehr vonnöten und der Gewinn könnte im Unternehmen verbleiben.

Auch der Einwand, es handle sich doch um eine sinnvolle Aufgabe, die gar im öffentlichen Interesse liege, ist eben eher ein Argument gegen deren Erledigung als ABM. Wenn es denn eine solche gewollte öffentliche Aufgabe ist, dann muß sie auch durch die Gebietskörperschaften, d.h. durch alle Steuerzahler finanziert werden.

Die Alternative

Genau darin liegt aber auch eine der grundsätzlichen Lösungsansätze der Massenarbeitslosigkeit, die mehr oder weniger stark alle Industriestaaten erfaßt hat und zu deren Beschreibung zunächst einmal etwas weiter ausgeholt werden soll.

Wenn es richtig ist, daß nur Zuwächse im Bruttoinlandsprodukt um die drei Prozent und mehr eine positive Wirkung auf den Arbeitsmarkt auslösen (der übrige Zuwachs kommt aus dem Produktivitätsfortschritt), dann läßt sich eine solche Wirkung nach gegenwärtigem Kenntnisstand ja nur für alle drei bis vier Jahre prognostizieren. Alle anderen Jahre sind Jahre der Stagnation und des Rückgangs der Nachfrage nach Arbeit. Selbst optimistische Ansätze angebotsorientierter Wirtschaftspolitik (neue Märkte für neue Güter schaffen) können das kaum überlagern, wenn sie denn überhaupt zu höheren Wachstumsprognosen führen.

Die Umverteilung von Arbeit, sprich Arbeitszeitverkürzung, als Lösungsansatz liegt nahe, wenn man sich gerade die Entwicklung dieses Jahrhunderts betrachtet. Arbeitete man um die Jahrhundertwende noch bis zu 12 Stunden an 6 Wochentagen und ohne einen nennenswerten Urlaub, so hat sich seither (wenn auch in Schüben) eine gigantische Arbeitszeitverkürzung eingestellt. Der im Vergleich dazu noch größere Produktivitätsfortschritt hat es aber gleichzeitig ermöglicht, daß diese Arbeitszeitverkürzung von einer ebenso deutlichen Erhöhung der Realeinkommen begleitet wurde. Letztere war aber wohl auch eine Voraussetzung für die Arbeitszeitverkürzung, denn diese wäre, wenn sie mit Einkommensverlust verbunden gewesen wäre, den zumindest in der ersten Jahrhunderthälfte am Rande des Existenzminimums lebenden Arbeitnehmern nicht zu vermitteln gewesen.

Grundsätzlich gilt dies aber auch heute noch. Die notwendige stärkere Bindung der Einkommen an die wirkliche Arbeitsleistung, notwendige flexiblere Tarifverträge und Arbeitszeiten außen vor gelassen, ist insgesamt eine Arbeitszeitverkürzung bei Einkommensrückgang langfristig aus zwei Gründen nicht plausibel. Da der dann eintretende Nachfragerückgang das Bruttoinlandsprodukt quasi multiplikativ zurückgehen ließe, würde der Einkommensrückgang erstens seinem vermeintlichen Ziel eines Beschäftigungszuwachses entgegenwirken. Eine ausgefallene Nachfrage-DM verringert die Produktion um eine DM, was wiederum zu einem Einkommensausfall der so nicht mehr Verdienenden wird, die dann auch nicht mehr nachfragen können - usw. usf. Zweitens ist auch die Frage, warum jemand, der immer produktiver wird, gleichzeitig tendenziell weniger verdienen soll, an sich schon unsinnig.

Einzig plausibel scheint, daß sich der Produktivitätszuwachs in (geringe) Lohnzuwächse und Arbeitszeitverkürzung aufteilt. Aber auch dies würde wohl auf massiven Widerstand vor allem der "Arbeitsplatzbesitzer" stoßen, da sie mit ihren Lohnforderungen maßgeblich über diese Aufteilung entscheiden.

Die Hoffnung auf die vielzitierte "Escape"-Taste Exportgüter, die, weil mit niedrigeren Lohnstückkosten hergestellt, dann wettbewerbsfähiger sind, ist ebenso töricht wie sie von einem Unverständnis gesamtwirtschaftlicher Zusammenhänge zeugt. Wenn eine Volkswirtschaft über Jahre hinweg mehr exportiert als importiert, dann legt sie damit auch den Grundstein für einen beständig ansteigenden Außenwert ihrer Währung (die wird also immer teurer). Und dies wiederum verteuert die Exporte - mögen sie im Inland auch mit ständig sinkenden Lohnstückkosten hergestellt worden sein -, wo hingegen die Import vergleichsweise immer billiger werden. Im Ergebnis bewirken die Märkte also auch eine relative ausgeglichene Handelsbilanz. Ein Sich-wettbewerbsfähiger-Sparen, das auf einen dauerhaften Exportüberschuß gerichtet ist, ist also von vornherein zum Scheitern verurteilt. Von den Folgen für Finanzen, Vermögen und der Tatsache, daß man eigentlich die Arbeitsplätze der anderen im eigenen Lande behalten will, ganz abgesehen.

Neue Märkte schaffen, vorhandene weniger behindern, Arbeit von Kosten, vor allem eben Nebenkosten entlasten und sie flexibler machen sind richtige und wichtige Ansätze und die Wirtschaftspolitik sollte keinen Tag ungenutzt vergehen lassen, um dieses auf den Weg zu bringen. Die Lücke von rund 4, wenn nicht sogar 5 Millionen fehlender Arbeitsplätze wird sie aber in absehbarer Zeit nicht füllen können - auch nicht annäherungsweise. Wo also sollen sie herkommen, die neuen Jobs, die auch eine deutliches Wachstum der "traditionellen" Wirtschafstebreiche nicht mehr liefern kann?

Erinnert man sich an das Beispiel der Berliner Möbelrecycler ist ein weiterer Ansatz erkennbar. Es gibt zahlreiche Aufgaben, die in den entwickelten Industriegesellschaften augenfällig und wahrscheinlich auch aus ihr heraus entstanden sind. Unübersehbar sind die Probleme im Umwelt-, Sozial- und Pflegebereich, in der Bildung, in der Entwicklungspolitik, ja auch in der Politik selbst. Unnötig, hier Beispiele aufzuführen.

Mit dem Verweis auf leere öffentliche Kassen und den daraus resultierenden Sparzwängen wird aber eine Lösung dieser Aufgaben nicht angegangen oder auf das Engagement der Bürgerinnen und Bürger selbst verwiesen. Schaut man jedoch unvoreingenommen in die Geschichte, so war ein allgemeiner Konsens darüber, daß bestimmte Aufgaben einer Gesellschaft unbedingt zu lösen sind, auch die Begründung der dann durch den Staat zu realisierenden öffentlichen Leistungen (Verwaltung, Sicherheit usw.). Diese sogenannten öffentlichen Güter unterliegen, je nach Anforderung durch die Gesamtwirtschaft (oder auch der Gesellschaft) ständig einer Veränderung, wie die Beispiele Bahn, Post, Kommunikation zeigen. Da aber einige Aufgaben weggefallen sind und heute besser privatwirtschaftlich gelöst werden (obwohl der Beweis noch aussteht), ist es doch legitim, danach zu fragen, ob nicht neue staatlichen Aufgaben hinzugekommen sind, die sich wiederum aus dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umfeld her ergeben.

Die Betreuung gefährdeter Jugendlicher, ihre bessere Ausbildung, die Verbesserung der Arbeits- und der Wohnumwelt, ja auch eine bessere Partizipation der Bürgerinnen und Bürger an politischen Entscheidungsprozessen sind doch Aufgaben, die eine modernen Gesellschaft enstprechen und die, wie die Erfahrung gezeigt hat, auch durch ein aufreibendes und mitunter frustrierendes individuelles Engagement allein nicht gelöst werden können. Je besser sie aber gelöst werden, desto größer ist auch der positive Effekt für Gesellschaft und Wirtschaft, wobei ja auch letztere gern auf eine intakte Umgebung und für sie kostenlose Dienstleistungen zurückgreift, allerdings ohne viele Worte darüber zu verlieren.

Warum finanziert man also Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, noch dazu nur aus zu wenigen Taschen, anstatt über eine neue Struktur öffentlicher Güter nachzudenken? Warum subventioniert man mit Milliarden und aber Milliarden untergehende Industrien und landwirtschaftliche Überproduktion oder aber kopflastige Verwaltungen mit teilweise überflüssigen und mitunter unsinnigen Aufgaben, anstatt wirklich sinnvolle Ergänzungen für Wirtschaft und Gesellschaft zu schaffen?

Diese müssen nicht vom klassischen öffentlichen Dienst selbst erledigt werden und schon gar nicht als hoheitliche Aufgabe mit beamteter Eigendynamik. Aber staatlich ausgeschrieben und finanziert müssen sie schon sein.

Hinzu kommt, daß all diese neuen Aufgaben eben nicht vorrangig durch Maschinen sondern nur durch hochqualifizierte Menschen gelöst werden können. Es werden Arbeitsplätze geschaffen, deren Notwendigkeit keiner bezweifelt und die nicht wie die heute subventionierten Branchen einem aussichtslosen Konkurrenzkampf mit Billiglohnländern unterliegen. Beispielsweise wird man Kohle in Deutschland nie mehr konkurrenzfähig fördern können - soviel Subventionen man auch zahlen mag - soziale Betreuung und Umweltverbesserung kann man aber nicht importieren.

Eigentlich ist es fast ein Königsweg, der Arbeit und Wirtschaft entlastet und gleichzeitig Beschäftigung in neuen und derzeit konkurrenzlosen Zweigen schafft. Allerdings verlangt er, daß man sich sowohl von Dogmen und vor allem von der Vorstellung trennt, mit ein wenig Sparen und ansonsten mit einem Weiter-wie-bisher Zukunft gestellten zu können. Um es ganz deutlich zu sagen: Der Staat müßte sich in doppelter Hinsicht zu seiner Verantwortung für die künftige Wirtschafts- und Arbeitsmarktentwicklung bekennen. Zum einen muß er anerkennen, daß Wirtschaftspolitik letztlich nur Sinn macht, wenn sie in absehbarer Zeit Beschäftigung für die schafft, die eine solchen wollen (Wozu brauchen wir sonst Wirtschaftspolitiker?). Zum anderen muß er anerkennen, daß es seine Verantwortung für Umfang und Struktur der öffentlichen Güter ist, die wesentlich das Wachstums- und Beschäftigungsproblem bestimmen. Immerhin gibt der Staat ja heute schon fast 50 Pfennig von jeder verdienten Markt aus - gesamtwirtschaftlich gesehen leider für die falschen Güter.

Deutschland hat eine gute Tradition, sich solchen Herausforderungen durch eine effiziente Organisation des Gemeinwesens zu stellen, wenngleich auch der Hang, sich dann an solchen einstmals gut funktionierenden Lösungen festzuhalten, ebenso verbreitet wie verständlich ist. Gerechtfertigt ist ein Beharren auf "gut ausgetretenen Pfaden" aber nur dann, wenn dieser Weg immer wieder unvoreingenommen an der wirtschaftlichen Realität gemessen wird. Da aber letztere anhaltende Wachstumsschwäche, wachsende Arbeitslosigkeit, Vermögensungleichgewichte etc. anzeigt, ist es wohl kaum noch bestreitbar, daß wir vor eher grundlegenden Veränderungen stehen und: Man muß sich verändern, um zu bleiben was man ist. In diesem Fall: ein Industrieland und ein Sozialstaat.

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